Russisches Holzhaus

Das traditionelle Leben in einem russischen Dorf – Teil 1

Julia Mailova erlebte in ihrer Kindheit noch das vorindustriell geprägte Leben in einem russischen Dorf und teilt ihre Erinnerungen mit uns. Erfahrt mehr darüber, wie ein autarkes Leben ohne Heizung, Kanalisation oder Supermärkte aussah und welche Auswirkungen das auf die Ernährung hatte.

Kindheitserinnerungen an die russische Küche

Julia Mailova ist Holistische Gesundheitsberaterin (AKN) und teilt auf ihrem Instagram-Account all.about_health fundiertes Wissen über Gesundheit und Ernährung. Durch Instagram haben wir uns „wiedergefunden“ und gemeinsam in Kindheitserinnerungen an die russische/ukrainische Küche geschwelgt. Julia Mailova ist in Kiev aufgewachsen, hat jedoch in ihrer Kindheit in den 1990er Jahren regelmäßig den Sommer bei ihren (Ur-)Großeltern in einem abgelegenen Dorf in Russland verbracht. Voller Neugierde habe ich sie über ihre Erinnerungen ausgefragt und hoffe, dass ihr das Ergebnis genauso spannend findet, wie ich!

Julia berichtet: „Meine Großeltern mütterlicherseits kommen aus einem kleinen Dorf in Russland. Dieses Dorf liegt etwa 220 km östlich von Moskau. Man fährt aus Moskau mit einer regionalen Bahn nach Schatura und von dort aus mit dem Bus weiter nach Radovitskiy Moch – so heißt das Dorf. Damals gab es dort kaum befestigten Straßen, nur Feldwege. Die ältere Generation (wie meine Urgroßeltern) lebten noch so ursprünglich, wie ich das im Folgenden beschreibe. Die Jüngeren hingegen wohnten bereits etwas moderner mit mehr Komfort und weniger Selbstversorgung. Sie kauften entsprechend Lebensmittel aus dem Laden, vom Bazar oder von anderen Privatpersonen. Trotzdem hatte fast jeder irgendwo noch etwas Land, wo man einen Teil seines Essens selbst kultivierte.“

Haus und Grundstück für ein autarkes Leben

„Meine Urgroßeltern lebten auf einem mehrere Hektar großen Grundstück in einem urigen Holzhaus, welches mein Uropa selbst gebaut hatte. Außer dem Haus gab es eine große Scheune, zwei Sommerduschen, eine Banja (Sauna), ein Klo-Häuschen, einen Brunnen und zwei niedrige Vorrats-Häuschen aus Holz (погреб). Der Rest des Grundstücks war für den Anbau von Lebensmitteln reserviert. Die typischen russischen Gärten waren damals nicht so gepflegt und „frisiert“, sodass es dort viele kleine Bewohner wie Igel, Frösche, Blindschleichen und Vögel gab.

Auf der Veranda stand eine große alte Webmaschine mit einem unvollendeten Teppich. Das Innere bestand aus einem Wohnraum, einer Küche, zwei Schlafräumen und Abstell- bzw. Vorratskammern (чулан). Im Hohlraum zwischen Fußboden und Erde lagen viele alte Sachen herum. Auch Ratten und Mäuse lebten dort.

Es gab im Haus keine Kanalisation und keine Heizung, nur primitive Elektrizität für Glühbirnen. Für die Wärme und zum Kochen wurde lange Zeit lediglich ein großer, russischer Ofen genutzt. Diese sind gewöhnlich so lang, dass man auch darauf schlafen kann. Ein mit einer Gasflasche gespeister Gasherd war erst im Laufe der Zeit angeschafft worden.

Im Garten gab es einen Brunnen, den wir uns mit Nachbarn teilten. Es war ein manueller Brunnen, so wie man ihn aus dem Mittelalter kennt. Man musste den Eimer auf einer Kette per Hand hinunter befördern, mit Wasser füllen, wieder hoch drehen und ins Haus tragen. Das Wasser wurde zum Kochen, Trinken und für die Körperpflege benutzt.“

Vorindustrielle Körperpflege ohne Badezimmer

„Im Garten stand ein Holzhäuschen mit einem Plumpsklo. Es war einfach ein Loch in der Erde, wo alles landete. Alle paar Monate kam eine spezielle Maschine und reinigte es. Wer nachts aufs Klo musste, nutzte einen Nachttopf.

Es gab noch zwei Sommerduschen im Garten. Das war ein Holzhäuschen mit einer Wasser-Zisterne auf dem Dach, die man morgens mit Wasser füllte. Bis zum Abend hatte es sich durch die Sonne erwärmt, sodass man dann warm duschen konnte. Zudem stellte Oma im Sommer einen Kübel mit Wasser auf, mit dessen Hilfe wir uns abends mit sonnenwarmen Wasser vom gröbsten Dreck befreien konnten.

Beliebter war die Körperpflege in der selbstgebauten ‚Banja‘ – eine Art Sauna, die ebenfalls im Garten Platz hatte. An etwa wöchentlichen Badetagen wurde diese mit Holz angeheizt und nach Geschlechtern getrennt genutzt. Man schlug sich gegenseitig mit Birkenzweigen, um die Durchblutung anzuregen. Im Vorraum der Banja konnte man sich im Anschluss gemeinsam entspannen. Die Männer aßen und tranken dabei gerne etwas.

Doch nicht jeder Haushalt hatte eine eigene Banja oder Sommer-Dusche. Deshalb gab es im Dorf eine öffentliche Zentral-Banja, wo man sich für wenige Rubel waschen konnte. Auch wir waren ab und zu dort, wenn wir unsere Banja zum Einsparen von Holz nicht anheizen wollten. Dort gab es zwei riesige Räume – einer für Frauen und einer für Männer.“

Selbstversorgung mit Gemüse, Obst und Pilzen

„Meine Urgroßeltern versorgten sich zu 80-90% selbst mit Nahrung, was sich an der Flächennutzung widerspiegelte. Der Großteil des Grundstücks wurde mit Kartoffeln bepflanzt: es gab zwei große Kartoffel-Felder vor dem Haus und eins hinter dem Haus. Direkt vor dem Haus gab es einen Gemüsebereich: dort wurden Tomaten, Gurken, verschiedene Zucchini-Arten, Möhren, Radieschen, Salat, Weißkohl, Zwiebeln, Knoblauch und diverse Kräuter wie Dill, Petersilie und Minze gepflanzt. Auch Erbsen, Bohnen und Erdbeeren wuchsen bei uns im Garten, aber nicht besonders viel. Pilze und diverse Wildkräuter gab es ebenfalls, ohne dass man sie extra gepflanzt hatte. Zudem sammelten wir im Wald eimerweise Pilze, Heidelbeeren und Walderdbeeren – die liebste Freizeitbeschäftigung! Alle Bewohner im Dorf waren Pilz-Experten und auch mir wurde von klein auf beigebracht, welche Pilze ich essen darf.

Der Rand des Grundstücks war mit zahlreichen Himbeer- und Brombeersträuchern gesäumt. Es gab auch Johannisbeeren in allen Farben, Stachelbeeren, Aroniabeeren und weitere Arten. Ich erinnere mich sehr gut an einen riesigen Busch voller Stachelbeeren, neben den ich mich oft im Sommer legte und reichlich davon futterte. Hinter dem Haus gab es Apfel- und Pflaumenbäume sowie vereinzelt am Rande ein paar Kirschbäume und Haselnusssträucher. Die Kirschen waren übrigens immer voller Würmer, das war auch ganz normal.

Gedüngt wurde vor allem mit Kuhmist und zermahlenen Eierschalen. Der Kuhmist wurde überall eingesammelt, da die Kühe im Dorf einfach frei herum gelaufen sind. Man sah dann immer Leute mit einem Eimer, die im Nachhinein den Mist für ihren Garten gesammelt haben.

Zur Schädlings-Bekämpfung gingen meine Ur-Großeltern im Sommer mehrmals pro Tag durch die Kartoffel-Felder und sammelte die Kartoffel-Käfer per Hand, denn Pestizide gab es keine. Auch ich habe als Kind die Käfer in einem Glas gesammelt und fand diese Beschäftigung ganz spaßig!“

Viele Nutztiere sicherten das Überleben

„Laut den Erzählungen meiner Mutter hatten meine Urgroßeltern früher eine Kuh, ein paar Schweine, ein paar Schafe und Hühner. Alle Tiere waren in der Scheune untergebracht, wo jedes Tier genug Platz für sich selbst hatte. Grundsätzlich ging man sehr gut mit seinen Nutztieren um, denn sie sicherten das eigene Überleben.

Die Schafe waren tagsüber draußen im Grünen. Sie wurden zwecks Fleisch und Wolle gehalten. Aus dem Fell wurden unter anderem warme Winterstiefel (валенки) und andere Winterbekleidung hergestellt. Die Schweine hingegen haben nie die Scheune verlassen, auch beim Nachbarn nicht. Zu Essen bekamen sie einen Mix aus Gemüseresten, Kartoffelschalen, Milch und Hafer.

In meiner Kindheit hielten die Ur-Großeltern nur noch ein paar Hühner in der Scheune. Diese war gemütlich mit Stroh ausgelegt und es gab einen Ausgang ins Freie. Dort konnten sie Gras fressen, zudem bekamen sie Hirse-Körner und eingeweichtes Brot. Die wenigen Hühner meiner Urgroßeltern waren genug für die Eier-Versorgung, aber nicht für Fleisch. Letzteres wurde von Dorfbewohnern gekauft, die deutlich mehr Hühner hatten. Dies war möglich, da die UrGroßeltern eine Rente bezogen. Der Uropa hatte als Schreiner gearbeitet und die Uroma in der Kollektiv-Wirtschaft.“

Auch Katzen waren Nutztiere

„Meine Urgroßeltern hatten zudem zwei Katzen. Auch diese waren Nutztiere, denn sie jagten Ratten und Mäuse. Sie lebten eigentlich außer Haus, aber man hat sie immer wieder mal irgendwo im Haus entdeckt, denn sie kannten alle Lücken, durch die sie reinkommen konnten. Ich habe sie auch ab und zu nachts bei mir im Bett gefunden! Katzen aßen Reste vom Tisch, Fleisch- und Knochenreste, Dickmilch und natürlich selbst gejagte Ratten und Mäuse. Mir ist aufgefallen, dass sie ein besonders schönes, dichtes Fell gehabt haben.

Katzen und Hunde waren dort nicht kastriert, deswegen gab es jedes Jahr Nachwuchs. Wenn man gerade keinen Bedarf an Nachwuchs hatte, wurde ein großes Loch im Garten ausgegraben und die neu geborenen wurden dort sofort nach der Geburt lebendig begraben. Einmal sogar direkt vor meinen Augen… So wurde die Überpopulation an Katzen und Hunden ,geregelt‘.“

Die Kühe fanden von selbst nachhause zurück

„Die Kuh wurde morgens früh rausgelassen bzw. von einem Hirten abgeholt und trieb sich den ganzen Tag irgendwo auf der Wiese oder im Wald herum. Abends wurde sie zusammen mit den Kühen anderer Höfe wieder zurück ins Dorf getrieben. Sie kannte ihren Hof und bog meist selbstständig auf das richtige Grundstück ein. Die Kühe hatten immer einen Namen, der beliebteste Name war Notschka (Ночька). Abends hörte ich manchmal jemanden durch das Dorf laufen und nach seiner Kuh rufen, die noch nicht nach Hause zurückgekehrt war. Manchmal verliefen sie sich nämlich. Im Winter bekamen die Kühe Heu zu fressen.

Die Milch, die man im Dorf kaufen konnte, war immer roh und stammte von den freilaufenden Weide- und Waldkühen. Es gab Hirten, die ihre Kühe in die Wälder trieben, damit sie dort Waldkräuter fressen. In den Wäldern gab es Seen und die Kühe standen gerne darin, um sich abzukühlen. In denselben Seen badeten auch die Dorfbewohner – auch ich habe dort zusammen mit Kühen gebadet.

Wer keine eigene Kuh hatte, konnte Milch und Milchprodukte entweder von einer lokalen Farm oder von Privatpersonen kaufen. Meine Oma holte sie mit mir abends beim Nachbarn, da die Ur-Großeltern zu jenem Zeitpunkt keine eigene Kuh mehr hatten. Die Milch war so frisch, dass sie noch ganz warm und schaumig war. Vom Geschmack her deutlich besser als die, die bereits einige Stunden gekühlt stand. Im Sommer bei warmen Temperaturen verwandelte sich die ungekühlte Rohmilch ganz von allein in Dickmilch. Sowohl wir, als auch die Katzen haben sie gerne gegessen!“

Russische Dickmilch-Suppe „Okroschka“

Suppe aus Dickmilch und Gartengemüse

Zum Abschluss dieses ersten Teils habe ich für euch das Rezept der Sommer-Suppe „Okroschka“ (oкрошка) ausgesucht. Diese kalte Suppe wird auf Basis von Dickmilch oder Kvas zubereitet und ist bis heute im russig-sprachigen Raum weit verbreitet. Auch bei den Ur-Großeltern von Julia Mailova wurde eine Variation dieser Suppe zubereitet. Bis auf das Salz wurden die schlichten Zutaten alle in Selbstversorgung auf dem Hof produziert.

Herstellung von Dickmilch

Echte Dickmilch gibt es in Deutschland nicht (mehr) zu kaufen. Fans der Traditionellen Ernährung wissen jedoch um die gesundheitlichen Vorteile dieses Sauermilchprodukts und stellen es aus Bio-Rohmilch selbst her. Das Internet gibt Auskunft darüber, wo sich in der Nähe eine Milch-Tankstelle zum Bezug von biologisch produzierter Rohmilch befindet. Zur Herstellung von Dickmilch wird die Rohmilch bei Zimmertemperatur wenige Tage stehen gelassen, bis sie eine joghurt-artige Konsistenz hat und von einer Rahmschicht bedeckt ist. Die so entstandene Dickmilch eignet sich zur Zubereitung von Okroschka.

Warum sich keine anderweitig gekaufte Milch dafür eignet, könnt ihr in diesem Artikel nachlesen. Der Konsum von Rohmilch wird kritisch gesehen, da sie bei nicht-artgerechter Tierhaltung kontaminiert sein kann. Ob man auf die vielen positiven Erfahrungen hören und auf eigenes Risiko hin biologische Rohmilch nutzen möchte, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Rezept: Suppe „Okroschka“

Zutaten: Dickmilch, frische Gurken, Radieschen, Frühlingszwiebeln, frische Petersilie, frischer Dill, Eier (1-2 Eier pro Person), Salz.
Zubereitung: Eier am flachen Ende mit einer Nadel einstechen und etwa 9 Minuten kochen, um hart gekochte Eier zu erhalten. In kaltem Wasser abschrecken, schälen und würfeln. Gemüse und Kräuter klein schneiden. Alles in eine Schüssel geben, mit Dickmilch aufgießen und salzen. Dazu Roggenbrot reichen. Statt Brot können auch gekochte Kartoffeln in Würfeln unter die Suppe gemischt werden.

Ausblick

In Teil 2 „Das traditionelle Essen in einem russischen Dorf“ wird Julia Mailova demnächst weitere interessante Details über das Leben bei ihren Ur-Großeltern berichten. Bis dahin schaut euch gerne mal auf ihrer Webseite www.juliamailova.de und dem Instagram-Account all.about_health um!

Fotos: Eigene Aufnahmen (aus Russland, aber nicht aus dem erwähnten Dorf!)

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...

1 Kommentar

  1. Marvin Falz says:

    Wieder ein sehr interessanter Einblick in die Vergangenheit. Vielen Dank. Freue mich schon auf Teil 2!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert