Oft liest man im Zusammenhang mit Traditioneller Ernährung, dass Getreide früher gesünder war, da es durch den langsameren Ernteprozess bereits auf dem Feld keimte. Viele Anfragen haben mich erreicht, ob dies denn wirklich so war und ob es sinnvoll ist, nur vorgekeimtes Getreide zu nutzen. In diesem Beitrag erfahrt ihr das Ergebnis meiner Nachforschung – wissenschaftliche Informationen, die ihr sonst nirgendwo so findet 🙂
Vorgekeimtes Getreide als Trend
Die Aussage, dass Getreide früher auf dem Feld keimte und dadurch verträglicher war, stammt ursprünglich von Dr. Edward Howell. Dieser gab 1985 ein Buch heraus, in dem er ein Ernährungskonzept für Langlebigkeit auf Basis von Enzymen anpreist. Dort schreibt er: „Die (Getreide-)Garben wurden zu Diemen aufgestellt und mehrere Wochen auf dem Feld stehen gelassen. Dann wurden die Diemen gesammelt und zu Stapeln getürmt, die vor dem Dreschen noch einige Wochen auf dem Feld standen. Während dieser Zeit der Verwitterung auf dem Feld waren die Körner Regen und Tau ausgesetzt, die in die Garben eindrangen. Das Getreide konnte diese Feuchtigkeit aufnehmen, und mit der Sonnenwärme waren die Bedingungen ideal, um eine gewisse Keimung und Enzymvermehrung im Getreide zu begünstigen.“ (S.40, übersetzt aus dem Englischen).
Diese Textstelle wurde im Kontext der Traditionellen Ernährung bereits vielfach zitiert. Unter anderem in Sally Fallons bekanntem „Nourishing Traditions“. Sie empfiehlt deshalb, traditionelle Getreidezubereitungen wie Bulgur oder Buchweizen-Grütze aus gekeimtem Getreide herzustellen. Auch Hersteller von Bio-Lebensmitteln haben diesen Trend aufgenommen und verkaufen für gutes Geld vorgekeimtes Getreide, beispielsweise Haferflocken. Es soll gesünder und verträglicher sein, als das klassische Getreide. Wichtig ist anzumerken, dass es sich bei diesem vorgekeimten Getreide nicht um Sprossen handelt. Beim vorgekeimten Getreide ist meist lediglich ein winziger Keimansatz zu sehen, während Sprossen ein weiteres Entwicklungsstadium des Kornes darstellen und bereits ein Blatt- oder Wurzelkeim entwickelt haben.
Betrachten wir im Folgenden das Thema also mal aus einer agrarhistorischen Perpektive um zu beurteilen, wie sinnvoll dieser Trend ist.
So sah die vorindustrielle Getreide-Ernte aus
Vor dem Aufkommen von Ernte-Maschinen erfolgte die Ernte des Getreides mit der Hand. In vielen Teilen der Welt lässt sich belegen, dass auch grünes, unreifes Getreide zu traditionellen Produkten wie dem Grünkern verarbeitet wurden. Da dieses zur Haltbarmachung erhitzt werden musste und dadurch besonders arbeitsaufwändig war, fand Haupternte jedoch erst bei voller Reife des Kornes statt. Wenn das Korn dem Druck mit dem Fingernagel widerstand oder sich brechen ließ, war es reif für den Schnitt.
Dann wurde es mit einer Sense oder Sichel geschnitten und zu Garben (= Getreidebündel, siehe Titelbild) gebunden. Eine Garbe enthielt etwa einen Arm voll Stroh und wurde mit einem provisorischen Strohseil zusammengebunden. Anschließend stellte man je zehn Garben zu einer Dieme zusammen. Dabei wurden neun Garben kegelförmig mit den Ähren (=Körnern) nach oben zeigend aufgebaut, während die zehnte Garbe über den so entstandenen Kegel gestülpt wurde. So stand das Getreide etwa eine Woche auf dem Feld und konnte im Wind trocknen, während es durch diese spezielle Bauweise vor Regen geschützt war. Anschließend holte man das Getreide ein und lagerte es trocken in Scheunen, bis man Zeit zum Dreschen hatte.
Bei der modernen Getreideernte baut man keine Diemen mehr. Das Getreide wird direkt während der Ernte gedroschen (= Trennung von Stroh und Korn) und noch am selben Tag eingefahren.
Getreideschober standen monatelang auf dem Feld
In Deutschland sind bereits seit vielen Jahrhunderten hauptsächlich Scheunen zur Aufbewahrung des Getreides üblich. Doch beispielsweise in Frankreich oder England wurden stattdessen noch im 19. Jahrhundert sogenannte Getreideschober genutzt. Diese bestanden meist aus einem Pfahl aus Holz oder Stein, der unten von einer runden, niedrigen Plattform aus Holz umgeben war. Auf diese wurden Stroh und Getreide auf eine solche Weise zu Kegeln aufgetürmt, dass das Regenwasser am Stroh abfließen konnte und nicht einsickerte. Die Ähren lagen innen vor Feuchtigkeit und Fäulnis geschützt. Ein solcher Getreideschober, der angeblich über 1000 Garben beinhalten konnte, stand auf diese Weise monatelang auf dem Feld. Dabei gab es jedoch immer auch das Risiko, von Schimmelpilzen befallen zu werden oder sich durch ungewollte Gärungsprozesse und daraus entstehende Erhitzung zu entzünden.
Bei der Tauröste fermentierte das Getreide auf dem Feld
Laut einem Lexikon aus dem 19. Jahrhundert gab es in machen Gegenden den Brauch, das geschnittene Getreide nach der Ernte einige Tage oder gar mehrere Wochen lang auf dem Feld liegen zu lassen. Diesen Fermentationsvorgang nennt man Tauröste oder Feldröste und setzte ihn traditionell eigentlich zur Verarbeitung von Pflanzenfasern für Stoffe ein. Der Begriff hat nichts mit dem Rösten über dem Feuer zu tun, sondern hat seinen Ursprung in „rotten“.
Insbesondere den Hafer bearbeitete man auf diese Weise, da dieser weniger empfindlich gegenüber Feuchtigkeit ist. Es hieß, dass sich Hafer nach der Feldröste besser als Tierfutter eignete und ergiebiger sei. Es handelte sich also um eine Silage des Getreides, wie es auch gegenwärtig in modernen Anlagen zur Herstellung von Gärfutter für das Vieh erfolgt. Außerdem ließ sich auf diese Weise gegorener Hafer angeblich leichter Dreschen. Solch „verrottetes“ Getreide wurde scheinbar nur selten für die menschliche Nahrung genutzt, da es sich nicht zum Backen von Brot eignet.
Der Brauch, auch Getreide der Feldröste auszusetzen, war schon damals umstritten. Man wies auf das Risiko hin, dass die Ernte durch zu viel Feuchtigkeit verderben und durch den Befall von Schimmel giftig werden könne. Außerdem konnte das Korn dadurch unfruchtbar werden und somit nicht mehr für die Aussaat im Folgejahr taugen. Hafer ist allerdings von allen Getreide-Arten am ehesten dafür geeignet.
Keimendes Getreide unerwünscht!
Aber ist es nun überhaupt möglich, dass Getreide noch auf dem stehend Feld keimt? Ja, das Keimen des Kornes direkt an der Ähre gibt es tatsächlich. Dieses Phänomen wird in der Landwirtschaft als „Auswuchs“ bezeichnet. Dieser kann sich von außen unsichtbar im Korn bilden, oder sich durch das Auftreten von Keimen deutlich bemerkbar machen. Zu Auswuchs kommt es dann, wenn das Wetter zu feucht ist oder Getreide-Felder schlecht durchlüftet sind. Letzteres ist in Monokulturen eher der Fall, als in traditionellen Mischkulturen. In diesen wurden nämlich unterschiedlich hohe Sorten im „Gemenge“ angebaut oder wuchsen zusammen mit Hülsenfrüchten, wodurch das Feld in der Regel gut durchlüftet war. Doch auch eine falsche Lagerung oder schlechte Trocknung des Getreides kann den „Auswuchs“ begünstigen.
Seit jeher versuchte man, „Auswuchs“ zu vermeiden, da er die Backfähigkeit verschlechtert und das Malzen (zur Bierherstellung) erschwert. Auch führt er zu Kornausfall am Halm, wodurch es bei der Ernte zu Verlusten kommt. Meine Oma erinnert sich an einen weiteren Grund, warum das Getreide früher auf dem Bauernhof ihrer Eltern auf keinen Fall keimen durfte. Während sich ungekeimtes Getreide nicht nur über den Winter, sondern sogar mehrere Jahre lang lagern lässt, geht dies bei gekeimtem Getreide nicht. Dieses verdirbt schnell und würde vermutlich eine energieaufwendige Trocknung benötigen, um gelagert werden zu können.
Die Hunza kannten übrigens ein Brot mit Zugabe von Getreidekeimlingen, doch auch dieses bestand zum größten Teil aus klassischem Mehl. Tatsächlich finden Archäologen gekeimtes Getreide oft nur in Zusammenhang mit der Bierherstellung. Ein Grund dafür ist, dass viele Getreidearten Spelz-Getreide sind. Das heißt, dass die einzelnen Körner im Gegensatz zu Nackt-Getreiden von einer nicht-essbaren Hülle ummantelt sind. Diese wird erst durch das Dreschen des Getreides entfernt, wobei der für die Keimung notwendige Keimling beschädigt wird. Deshalb konnte die Verarbeitung von gekeimtem Spelz-Getreide tatsächlich meist nur als Bier erfolgen!
Mehr Risiko als Vorteil?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Getreideernte zu vorindustrieller Zeit deutlich langsamer erfolgte, als es gegenwärtig der Fall ist. Nicht überall waren Scheunen zur Lagerung vorhanden, sodass Getreideschober auf den Feldern weit verbreitet waren. Für Tierfutter setzte man geschnittenen Hafer zum Teil sogar absichtlich auf dem Feld der Verrottung aus. Keimen sollte das Getreide jedoch auf keinen Fall, da es dann weder zur Lagerung, noch zum Brotbacken, Malzen oder als Saatgut taugte. Bereits geschnittenes Getreide der Witterung auszusetzen, ging zudem immer mit dem Risiko einher, durch Pilzbefall gesundheitsschädlich zu werden.
Ich komme somit zu dem Schluss, dass die Theorie von Dr. Edward Howell nur teilweise stimmt. In Ländern mit feuchtem Klima kam es früher bestimmt gelegentlich vor, dass das Getreide bereits auf dem Feld keimte. Allerdings war dies aus gesundheitlicher Sicht wahrscheinlich eher von Nachteil, da der Vorgang schlecht kontrollierbar war und Schimmel auftreten konnte. Wo nur möglich, versuchte man das Getreide trocken zu halten und wäre vermutlich sehr zufrieden mit dem Ergebnis der modernen Ernte. Eine Ausnahme bildet der Hafer, der sich tatsächlich auf dem Feld fermentieren lässt. Dies erfolgte früher jedoch vor allem zur Herstellung von Gärfutter (Silage) für das Vieh.
Obwohl Keimlinge und Sprossen sehr gesund sind, müssen wir aus Perspektive der Traditionellen Ernährung also nicht zwingend unser Getreide für die tägliche Nahrung vorkeimen, um es verträglicher zu machen (dafür gibt es andere traditionelle Methoden). Jede Art der vorindustriellen Lebensmittelverarbeitung hat ihre Vor- und Nachteile. Keimlinge eignen sich zwar super zur Zubereitung als Gemüse oder zur Herstellung von Bier, aber eher weniger für Mehlspeisen oder Beilagen. Es ist jedoch jedem selbst überlassen, mithilfe dieser Recherche zu entscheiden, ob man das aufwendige bzw. teure Vorkeimen von Getreide für notwendig hält.
In zwei anderen Beiträgen werde ich darauf eingehen, was bei der Nutzung von Mehl zu beachten ist, sowie über die Geschichte und Verwendung von Keimlingen und Sprossen berichten!
Quellen
- Cappers, René: Digital atlas of traditional food made from cereals and milk, Groningen 2018.
- Fallon, Sally & Enig, Mary: Nourishing Traditions, 2001.
- Howell, Edward: Enzyme Nutrition. The Food Enzyme Concept. Unlocking the secrets of eating right for health, vitality and longevity, 1985 (Book Summary).
- Krünitz, Johann (1773 bis 1858): Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landschaft in alphabetischer Ordnung, Berlin. Stichworte: Röste, Getreideschober.
- LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte / Gabriel Simons: „Die Ernte – 1. Mähen und Einbringen der Brotfrucht„, 1966 (Film).
- Maier, H.: Auswuchs von Weizen: Ein Phänomen im Jahr 2010 mit großer Wirkung, in: Klimastatusbericht 2010, S. 82-85.
- Österreichische Beschreibende Sortenliste 2015: Auswuchs uns Fallzahl bei Getreide.
- Spulerova, Jana et al.: Past, Present and Future of Hay-making Structures in Europe, in: Sustainability 11 (20), 2019.
- Wikipedia: Auswuchs, Röste, Стог.
- Titelbild: Pixabay