Das Bild zeigt indische Frauen.

Geht Traditionelle Ernährung auch vegetarisch?

Seit ich ein Jahr in Indien gelebt habe, bin ich fasziniert von der traditionellen vegetarischen Küche Indiens, wo viele Familien aus religiösen Gründen seit Jahrhunderten vegetarisch leben. Ich lerne auch nun, viele Jahre später, immer wieder neues von ihr. Dadurch inspiriert teile ich in diesem Artikel verschiedene Überlegungen zum Thema Tierprodukte, Proteine und dazu, unter welchen Voraussetzungen Traditionelle Ernährung auch für Vegetarier funktionieren könnte.

Wie gesund sind Tierprodukte?

Tierische Produkte sind seit jeher ein zentraler Bestandteil der menschlichen Ernährung. Sie liefern wichtige Nährstoffe, die für das Wachstum, die Entwicklung und die Erhaltung der Gesundheit notwendig sind. Gleichzeitig sind sie Gegenstand intensiver Diskussionen, da unausgewogener Konsum auch mit gesundheitlichen Risiken verbunden sein kann, wie etwa erhöhten Entzündungswerten.

Biologisch ist der Mensch darauf ausgerichtet, beide Arten von Lebensmittel zu konsumieren. Wie unter anderem von Weston Price beobachtet, wurden von traditionell lebenden Völkern in den meisten Fällen beide Arten von Lebensmitteln ausgewogen genutzt. Es gab Ausnahmen, in denen Völker wie die afrikanischen Masai sich fast ausschließlich von tierischen Lebensmittel ernährten. Es gab auch den Fall der indischen Vegetarier, die sich ohne Fleisch, Fisch oder Eier, dafür aber mit Milchprodukten ernährten. Aber, es ist kein Volk bekannt, welches sich ausschließlich von pflanzlicher Nahrung (also vegan) ernährte.

Dr. Natasha Campbell-McBride ist der Ansicht, dass die Funktion tierischer Nahrungsmittel tendenziell mehr die Nährung des Körpers ist, während die pflanzlicher Nahrungsmittel die Reinigung und Entgiftung des Körpers ist. So erklärt sie auch das Phänomen, warum sich viele Veganer in der Anfangszeit ihrer neuen Ernährungsform so gesund fühlen, nach längerer Zeit jedoch Mangelerscheinungen aufweisen.

Was früher anders war

Die Umstände, unter denen Tierprodukte heutzutage produziert werden, sind in keinster Weise mit denen zu vorindustrieller Zeit vergleichbar. Nicht jeder hat Zugang zu biologischen Produkten aus artgerechter Haltung. Beim Konsum von Produkten aus industrieller Tierhaltung wird der menschliche Organismus unter anderem mit Hormonen und Antibiotikarückständen belastet, Böden und Gewässer mit Nitrat.

In meinem umstrittenen Artikel „Kritische Sicht auf „Traditionelle Ernährung nach Weston Price““ teile ich einige Beobachtungen meiner Reisen und historischen Recherchen, die aus traditionell-gesunder Sicht gegen den übertriebenen Konsum tierischer Lebensmittel sprechen. Kurz zusammengefasst:

  1. Früher wechselten sich reichhaltige und schlichte Mahlzeiten ab – ich nenne es „Alltags- vs. Festtagskost“. Auch gab es in allen Kulturen Fastenzeiten mit eigenen Regeln.
  2. Das hat unter anderem mit der saisonalen Verfügbarkeit zu tun. Beispielsweise gaben die Kühe früher nicht das ganze Jahr über Milch.
  3. Aber auch damit, dass die Tierzucht vor allem in der modernen Zeit die großen effizienten Tier hervorgebracht hat, wie wir sie kennen. Die Kühe von früher waren deutlich kleiner, magerer und haben weniger Milch gegeben.
  4. Selbst Weston Price empfahl nach seinen berühmten Reisen zu gesunden Urvölkern für die Proteinversorgung lediglich „ein Ei oder Stück Fleisch pro Tag“.

Nun leben wir jedoch nicht vor 200 Jahren als Selbstversorger in einem von der Außenwelt isolierten Tal. Sondern wir leben in der modernen Welt mit allen ihren Vorzügen und Versuchungen. Ich habe also einen eigenen Weg gefunden, um die oben beschriebenen Beobachtungen in meiner Ernährung umzusetzen.

Trennkost“ bei tierischen Proteinen

Statt tierische Produkte saisonal zu essen, z.B. im Winter mit Schwerpunkt auf Fleisch und im Sommer auf Milch, wie bei den mongolischen Nomaden, versuche ich diese Abwechslung im Laufe des Tages und der Woche in einzelnen Gerichten darzustellen. Daraus hat sich eine Art „Trennkost“ entwickelt, bei der ich meine Alltagsmahlzeiten oft vegan (mit Hülsenfrüchten oder Nüssen/Samen als Proteinquelle) oder aber mit nur einem tierischen Protein halte. Beispielsweise mache ich mir zum Frühstück gerne eine Art Kaiserschmarrn aus frisch gemahlenem Getreide und Eiern, aber ohne Milch. Oder wenn ich mir ein Rührei koche, dann ist da meist kein Speck oder Käse drin. Oder Lasagne, die bervorzuge ich in ihrer vegetarischen Form. Das ist keine Einschränkung, sondern ein natürliches Bedürfnis nach Ausgewogenheit im Alltag, die zu mehr Genuss und Wertschätzung von „Festtagsessen“ führt.

Zu dieser Idee angeregt hat mich die indische Ernährungswissenschaftlerin Rujuta Divekar. Sie war es, durch die ich vor vielen Jahren erstmals (noch vor Weston Price) auf die Idee der Traditionellen Ernährung gestoßen bin. Ebenso wie das Ayurveda, die altertümliche indische Gesundheitslehre, argumentiert sie, dass komplexe Gerichte mit zu vielen verschiedenen Zutaten schwer verdaulich sind. Damit ist wahrscheinlich nicht die Kombination vieler verschiedener Gemüse und Gewürze gemeint, die in der indischen Küche sehr gängig ist.

Tatsächlich werden für verschiedene Nährstoffe und Nahrungsmittel unterschiedliche Enzyme benötigt. Je komplexer und vielfältiger eine Mahlzeit, desto anspruchsvoller ist Verdauung. Proteine etwa werden unter anderem von Pepsin, Trypsin, Chymotrypsin und Carboxypeptidasen in unterschiedlichen Verdauungsabschnitten schrittweise zerlegt. Bei Mahlzeiten mit vielen unterschiedlichen Proteinen steigt die Anforderungen an das Verdauungssystem, da entsprechend viele verschiedene Enzyme erforderlich sind. Je komplizierter die Mahlzeit, desto höher ist die Anzahl an zu spaltender Nährstoffverbindungen, was den Bedarf an spezifischen Enzymen erhöht.

Das Bild zeigt eine Infografik zu Alltags- und Festtagskost in der Traditionellen Ernährung.

Ein häufiger Fehler westlicher Vegetarier

In der Vollwertbewegung und unter gesundheitsbewussten Vegetariern ist es weit verbreitet, Fleisch einfach durch Milchprodukte wie Käse und Quark zu ersetzen. Diese Strategie erscheint auf den ersten Blick sinnvoll: Milch liefert hochwertiges Eiweiß, Kalzium und andere Nährstoffe. Doch wer sich ausschließlich auf Milchprodukte als Ersatz verlässt, läuft Gefahr, in eine Nährstofffalle zu tappen. So wie ich damals während meinen sieben vegtarischen Jahren.

Denn das in Milchprodukten enthaltene Kalzium ist zwar essentiel für die Gesundheit, hat jedoch eine Schattenseite: Es konkurriert mit Eisen um die Aufnahme im Darm. Studien zeigen, dass hohe Mengen an Kalzium wie etwa aus Milchprodukten die Eisenresorption aus pflanzlichen Lebensmitteln deutlich hemmen können. Das ist besonders relevant für Vegetarier, die durch den Verzicht auf Fleisch, welches von Natur aus eisenreich ist, stärker auf das Eisen aus anderen Quellen angewiesen sind. Wer Milchprodukte als alleinigen Ersatz sieht, riskiert eine unausgewogene Versorgung, insbesondere mit Eisen.

Damit der Verzicht auf Fleisch nicht in einem Eisenmangel endet, sollten Vegetarier ausreichend milchfreie Mahlzeiten zu sich nehmen. Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte, Hirse, Kürbiskerne oder grünes Blattgemüse zählen zu den eisenreichsten pflanzlichen Nahrungsmittel. Auch hier ist die traditionelle vegetarische Küche Indiens ein gutes Vorbild. Die meisten Gerichte sind vegan mit pflanzlichem Protein aus Hülsenfrüchten oder Nüssen und Samen. Einige Gemüsegerichte enthalten einen speziellen Käse und manchmal wird Joghurt mit probiotischen Bakterien zum Essen gegessen, oder (Roh-)Milch getrunken.

Kombination von pflanzlichen Proteinen

Ich habe mal drei Jahre lang vegan gelebt und dabei den Fehler gemacht, tierische Produkte einfach wegzulassen, ohne sie zu ersetzen. Dadurch aß ich zu wenig Protein, welches essentiell für den menschlichen Körper ist. Wenn ich also aktuell weniger tierische Produkte esse, dann achte ich auf einen vollwertigen Ersatz dafür. Das funktioniert, indem ich durch die Kombination von verschiedenen pflanzlichen Eiweißquellen eine ähnliche biologische Wertigkeit der Proteine erhalte, wie bei Fleisch.

Aminosäuren, die Bausteine von Proteinen, sind in Lebensmitteln unterschiedlich vorhanden. Es gibt 20 verschiedene Aminosäuren, von denen neun als essentiell gelten. Das heißt, sie müssen durch die Nahrung aufgenommen werden, da der Körper sie nicht selbst herstellen kann. Fleisch und andere tierische Produkte enthalten alle essentiellen Aminosäuren in ausreichenden Mengen und werden daher als vollständige Proteinquellen betrachtet. In vielen pflanzlichen Lebensmitteln hingegen fehlen einige essentielle Aminosäuren oder sind in geringeren Mengen vorhanden. Durch die Kombination von verschiedenen pflanzlichen Proteinen, die sich in ihren Aminosäurenprofilen ergänzen, lassen sich vollständige Proteine mit einer hohen biologischen Wertigkeit erstellen (biologischer Ergänzungswert). Die biologische Wertigkeit beschreibt also, wie effizient Protein im Körper verwertet wird.

In vielen Kulturen gibt es traditionelle Kombinationen von pflanzlichen Lebensmitteln, die eine vollständige Nährstoffversorgung gewährleisten. Solche Kombinationen sind seit Jahrhunderten erprobt und haben sich als nahrhaft und funktionell erwiesen. Beispiele für solche Kombinationen sind Gerichte Bohnen und Mais (traditionell in Mexiko) oder Reis und Linsen (traditionell in Indien). Hier liefern die Hülsenfrüchte unter anderem Lysin, während Reis/Mais Methionin liefert. Gemeinsam bieten sie ein ausgewogenes Aminosäurenprofil und somit in dieser Hinsicht eine ähnliche Nährstoffversorgung wie Fleisch. Natürlich spielen hier noch weitere Faktoren eine Rolle für perfekte Bioverfügbarkeit, das heißt, wie gut ein Nährstoff vom Körper aufgenommen und genutzt werden kann. Beispielsweise traditionelle Zubereitungsmethoden wie die Fermentation der Zutaten.

Traditionelle Ernährung ist nicht schwarz-weiß

Meine Empfehlungen sind keine schwarz-weiß-Regeln, die man unbedingt befolgen muss, sondern nur Tendenzen. Denn die Wahrheit liegt wie immer irgendwo in der Mitte. Nicht immer trenne ich im Alltag konsequent tierische Proteine. Wenn ich zum Beispiel mal ein Wurstbrot esse, dann muss da auch unbedingt Butter drauf. Oder meine geliebten Nudelbrocken zum Frühstück enthalten sowohl Quark als auch Ei. Zu Pelmeni (mit Fleisch gefüllte Teigtaschen) gibt es traditionell Butter und Schmand, auch bei mir. Und ebenso werde ich nicht gleich zur Vegetarierin, nur weil ich aktuell weniger Appetit auf Fleisch habe. Traditionelle Ernährung soll einen entspannten Zugang zu einer gesunden Lebensweise ermöglichen und die Intuition des Körpers fördern – und nicht Dogmen oder Selbstvorwürfe durch strenge Regeln fördern.

Fazit: Voraussetzungen für eine vegetarische traditionelle Ernährung

Geht Traditionelle Ernährung auch vegetarisch? Weston Price sagt nein, die indischen Brahmanen sagen ja. Ich sage: Warum in Kategorien denken? Aber wer es ausprobieren möchte, der kann mithilfe des biologischen Ergänzungswertes, der cleveren Kombination von pflanzlichen Proteinen, dem Meiden der „Milch-Falle“ und dem Wissen um traditionelle Zubereitungsmethoden gute Voraussetzungen dafür herstellen.

*

Was denkt ihr über dieses Thema? Interessiert es euch, mehr über traditionellen Vegetarismus und dessen Weisheiten zu erfahren, oder interessiert ihr euch mehr für die tierbasierte Traditionelle Ernährung? In jedem Fall könnte euch auch dieser Artikel über andere Aspekte der traditionellen indischen Ernährung interessieren.

*

Quellen

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...

1 Kommentar

  1. Verena says:

    Zur Eisenaufnahmen und Milchprodukten: Rohmilch enthält Lactoferrin, das Eisen löslich hält und dem Körper zur Verfügung stellt. In welchem Ausmaß das den hemmenden Effekt des Kalziums ausgleicht, kann ich nicht beurteilen – Kuhmilch enthält zugegebenermaßen im Vergleich zur Muttermilch des Menschen sehr wenig Lactoferrin. Bei der Pasteurisierung denaturieren jedenfalls Lactoferrin und andere Eiweiße, was die Aufnahme vieler Nährstoffe, nicht nur von Eisen, behindert. Das ist sicherlich ein nicht unerheblicher Faktor, warum Vegetarier heute schneller in einen Mangel geraten als Völker, die traditionell vegetarisch leben: Milchprodukte aus dem Supermarkt sind fast immer pasteurisiert.
    Des Weiteren denke ich, dass Menschen heute oft eine schwache Darmflora haben und pflanzliche Proteine nicht mehr so effizient verdauen können. Fleisch bietet höhere Bioverfügbarkeit.
    Dann vermute ich, dass auch das Klima eine Rolle spielt. Völker, die sich überwiegend pflanzlich ernähren, gibt es nur in warmen Gegenden. Das liegt natürlich in erster Linie daran, dass dort die Vegetationsperiode lang oder durchgehend ist, aber auch die Temperatur an sich scheint eine Rolle zu spielen. Ich zumindest verspüre im Winter ein stärkeres Bedürfnis, Fleisch zu essen, an heißen Sommertagen ziehe ich hingegen Pflanzliches und Fisch vor.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert